Die Historiker:in, Lehrer:in und Aktivist:in Claudia Andrea Gotta und die Künstlerin Karen Michelsen Castañón besprechen Aspekte der Ausstellung, die im Zusammenhang mit den Geschichten und dem Widerstand der an der Ausstellung beteiligten Kollektive stehen.
K: Willkommen zum Podcast, in dem wir gemeinsam über die Ausstellung La escucha y los Vientos in der ifa-Galerie in Berlin sprechen. Heute sind wir auf Einladung der Kuratorinnen dieses Gemeinschaftsprojekts, Inka Gressel und Andrea Fernández, hier. Mein Name ist Karen Michelsen Castañón, ich bin Künstlerin und Kulturarbeiterin in Berlin. Innerhalb des hier vorherrschenden strukturellen Rassismus, werde ich in Deutschland als eine Person of Color gesehen, während ich in Abya Yala eine weiße Mestizin bin. Claudia, 1000 Dank, dass du dabei bist.
C: Hallo zusammen. Mein Name ist Claudia Andrea Gotta, ich bin Argentinier:in, Erzieher:in, Lehrer:in, Historiker:in, Umwelterzieher:in und Aktivist:in auf dem Gebiet der Menschenrechte und speziell für die Rechte indigener Pueblos. Zurzeit bin ich neben meiner Tätigkeit an der Universität auch die nationale Sekretär:in der Ständigen Versammlung für Menschenrechte und trete für die Einhaltung der Rechte der indigenen Pueblos in meinem Land ein.
K: Danke, Claudia. Ich wollte euch kurz erzählen, wie wir uns kennengelernt haben, denn nun ja, ich bin in Berlin und Du bist in Rosario. Ich hatte das Vergnügen – und die Ehre – Dich 2019 in Rosario zu treffen, als ich Dich für das audiovisuelle Projekt No más poemas para Colón interviewte. In diesem Projekt erzählen die interviewten Personen, wie der Mythos der sogenannten ‚Entdeckung‘ von Abya Yala in ihrem jeweils eigenen territorialen und historischen Kontext konstruiert ist und wie das mit der Realität kontrastiert, in der sie leben. Was ich interessant fand, als wir uns zu Beginn dieses Podcasts unterhielten, war, dass sowohl Deutschland als auch Argentinien narrativ immer noch als homogen weiße Nationalstaaten konstruiert und wahrgenommen werden. Die Geschichte der Pueblos, die vor diesen Nationalstaaten existierten und nach wie vor existieren, wird in diesem Narrativ vermieden, und deshalb ist die Ausstellung La escucha y los Vientos so interessant, weil Gruppen von Vertreter:innen unterschiedlicher Pueblos teilnehmen und uns durch ihre Werke auf ihr Leben, ihren Widerstand und ihre Kämpfe aufmerksam machen – in diesem speziellen Fall aus dem Gebiet, das Gran Chaco genannt wird.
C: Diese Ausstellung ist durch die Beiträge einer Reihe von kollektiven Initiativen möglich geworden, unter denen wir das Radio La Voz Indígena erwähnen möchten.
K: Die ethnische Erinnerungswerkstatt der indigenen Organisation Aretede.
C: Die Textilien, die Botschaften des Kollektivs Thañí / Viene del monte von Frauen aus Wichí-Gemeinden enthalten, das wiederum Teil des Vereins Lhaka Honhat/Nuestra Tierra ist.
K: Es werden auch Textilien der Wichí-Gemeinden, insbesonders der La Puntana-Gemeinschaften gezeigt.
C: Und die Keramikarbeiten der Chané Tutiatí Orembiapo Maepora-Gemeinschaft und vieler, vieler weiterer Menschen. In der Tat, Karen, haben unzählige Menschen, die man unmöglich alle einzeln nennen kann, mit diesem Kollektiv zusammengearbeitet und diese Ausstellung möglich gemacht.
K: Das stimmt Claudia. Die Zuhörer:innen können auf die ifa-Galerie-Seite der Ausstellung gehen. Es gibt auch Broschüren, und in jeder Broschüre sind alle Mitwirkenden mit ihrem jeweiligen individuellen oder gemeinschaftlichen Beitrag zur Ausstellung aufgeführt. Dieser erste Podcast beginnt somit mit einer Frage für Dich: Welche historischen Aspekte sollte man deiner Meinung nach hervorheben, um die Kämpfe der an dieser Ausstellung beteiligten Kollektive zu unterstützen?
C: Man könnte sagen, dass diese Gemeinschaften, die in ihren anzestralen Territorien Opfer von Invasionen geworden sind, die in die Enge getrieben und/oder enteignet worden sind, in diesem Wortspiel eine Form des Widerstands erfahren, des Wider-stehens, um weiter zu bestehen. Dies lädt uns dazu ein, auf andere Formen des in der Gemeinschaft entstehenden Wissens wieder zuzugreifen. Ihre Auffassung des Landes, das sie in einigen Fällen seit jeher bewohnen, oder in das sie durch das aggressive Vordringen des Marktes und des Kapitals in ihre ursprünglichen Territorien verlagert wurden, zeigt uns einen Ansatz in der Welt zu sein, wo es durch das Kollektiv erst möglich wird, weiter zu kämpfen und nach eigenen Überzeugungen und dem eigenen spezifischen Verständnis vom Leben zu handeln. Wir müssen diese andere Weise, das Leben in Übereinstimmung mit der Vielfalt und Verschiedenheit des Lebens in den besagten Territorien zurückgewinnen. In dieser Ausstellung erlauben uns diese materiellen Träger, die Botschaften übermitteln, den Wald zeigen, die Lagune, die Tiere, so viele Geschichten, die auf wunderbare Weise in die Textilien eingewoben sind, und die von den Frauen der Region Gran Chaco stammen, die kontinuierlichen Wiederaufarbeitung der eigenen Geschichte zu sehen, die in die Gegenwart übersetzt wird, um viele Aspekte zu retten, die andere Werte, eine andere Ethik bilden, ausgehend vom Leben und für das Leben eintretend. Ein Gefüge, in dem Frauen eine wirklich zentrale Rolle einnehmen und das uns dazu einlädt, den Feminismus zu dekolonisieren. Die Frauen des Gran Chaco zeigen uns, wie sie Bewahrerinnen und gleichzeitig Schöpferinnen ihrer eigenen Kultur sind. Der Feminismus von Abya Yala lädt uns ein zu erkennen, dass Feminismus dekolonial sein muss, sonst existiert er nicht oder ist hohl, denn oft setzen wir im Widerstand auf Konzepte, die in sich selbst schon kolonisiert sind. So präsentiert diese Ausstellung in gewisser Weise dem Publikum, das sie hoffentlich bald persönlich, und falls nicht, in digitaler Form besuchen kann, wie eine andere Art, den Raum zu bewohnen, eine andere Vorstellung vom Leben, in diesen ‚kulturellen Artefakten‘, als welche sie der hegemoniale Blick definiert, sichtbar wird. In Wirklichkeit sind es bedeutsame Objekte, die auch konkrete Funktionen im täglichen Leben übernehmen, die aber den Fokus der Debatten und Überlegungen auf die Frage richten, wie eine Vision der Welt durch diese Textilien und Keramiken spricht, die wir nicht nur anerkennen sollten, sondern von der es auch gilt zu lernen. Weil es dringend notwendig ist, dass eine neue Art der Beziehung zueinander in der menschlichen Gemeinschaft, die uns alle betrifft, auf verschiedenen Ebenen und im Einklang mit anderen Schöpfungen des Lebens aufgebaut wird.
K: Ja, danke Claudia. Ich denke, dass es klar ist, dass sich die Geschichte des Gran Chaco nicht in ein paar Minuten zusammenfassen lässt, aber vielleicht kannst Du uns ein paar Ansatzpunkte nennen, um die Invasionprozesse zu verstehen, die ab dem 19. Jahrhundert ablaufen und hier nicht bekannt sind, um eine historische Perspektive zu schaffen.
C: Ja, natürlich, danke, ich denke, das ist eine notwendige Information, obwohl ich sie in diesem Kontext etwas zusammenfassen sollte. Der Gran Chaco, den wir heute in unserem Land so bezeichnen, war einst ein viel ausgedehnteres Gebiet, das heute Teile anderer Länder wie Brasilien, Bolivien und Paraguay mit umfasst. Ein Gran Chaco als Bühne, auf welcher der Wald, der Dschungel, über Jahrtausende hinweg Lebensformen hervorbrachten, über die wir natürlich sehr, sehr wenig wissen, weil der Gran Chaco aus dem hegemonialen Blick heraus als die andere große Wüste wahrgenommen wurde und nach wie vor wahrgenommen wird. Es ist eine Vorstellung von Leere, die den beiden großen Gebieten aufgezwungen wurde, welche der argentinische Nationalstaat schließlich in das, was später als das Staatsgebiet definiert wurde, nachträglich eingliedern konnte. Ein Prozess, der Ende des 15. Jahrhunderts für Abya Yala begann, und der hier im letzten Viertel des 19. Jhdt. erst anfing, mit der Festlegung von zwei großen Gebieten, eines im Süden, Patagonien genannt, und dem Chaco für Argentinien. Diese Gebiete wurden irrtümlicherweise, aber nicht ohne Hintergedanken als Wüsten bezeichnet. Denn die Wüste baut sich ja narrativ vom Nichts ausgehend auf, als eine Negation anderer Bedeutungen oder Vorstellungen. Dies ist der Blick der vorherrschenden Klasse, der Landoligarchie, die auf die noch unter indigener Kontrolle stehenden Gebiete vordringen wollte, um ihr ‚zivilisatorisches Projekt‘ zu vollenden. Nein, der Begriff der Wüste ist widersprüchlich, denn eine Wüste wird nicht erobert, sie wird besetzt, wenn es wirklich eine Wüste ist. Tatsächlich aber war keines dieser Gebiete eine Wüste, im Gegenteil, sie waren und sind der Obstgarten eines kulturell unterschiedlichen und vielfältigen Lebens im Vergleich zu dem, was dieser argentinische Nationalstaat allen aufzwingen wollte, mit dieser Vision, auf die Du am Anfang Bezug genommen hast: monokulturell, einsprachig und natürlich durchgehend weiß. Deshalb hat der Staat im Laufe dieser mehr als zwei Jahrhunderte, ja fast zweieinhalb Jahrhunderte andauernden Geschichte, ein künstliches Konstrukt über diese Gebiete aufgebaut, das überhaupt keine Ähnlichkeit zu dem aufweist, was in ihnen schon immer erzeugt wurde und weiterhin erzeugt wird. Diese anderen Perspektiven, diese anderen Lebensweisen und Formen der Kulturzeugnisse und natürlich auch die anderen Auffassungen der Natur, des Lebens und damit auch dessen, was gelernt wird, gelernt werden sollte, diese Bewahrung des Wissens, die, wie wir schon sagten, die Wichí-, Chané-, Mocoví-, Qom-Frauen in den Mittelpunkt stellt, repräsentiert eine sehr breite kulturelle und sprachliche Vielfalt. Diese Gebiete haben eine große Biodiversität und eine reiche kulturelle Vielfalt, aber in der hegemonialen Sichtweise werden sie durch die Linse des Kolonialismus als Orte gesehen, an denen Armut herrscht. Das hat wiederum unsere Sichtweise auf andere Territorien, auf andere Brüder und Schwestern, geprägt und beeinträchtigt. Das Anderssein wird somit auch als etwas begriffen, das überwunden werden muss. Diese Vorstellung von Armut ist irreführend, denn es sind keine armen Bevölkerungsgruppen, es handelt sich vielmehr um verarmte Gemeinschaften: Sie sind durch diesen hegemonialen, ungezügelten Kapitalismus, den wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, und der in diese Gebiete vorstößt, in die Armut getrieben worden. Darüber werden wir dann in den nächsten Folgen sprechen, aus einer anderen Perspektive heraus. Das ist wichtig und ich danke Dir, dass Du mich dazu eingeladen hast. So können wir den Blick auf diese Gebiete wagen, auf diese anderen Arten, die Welt zu bewohnen – und dabei natürlich auch die anderen Botschaften wahrnehmen, die sich in jenen Schöpfungen wiederfinden, auf die wir zuvor bereits Bezug nahmen, die Textilien, die Keramik und selbstverständlich auch die Stimmen derer, die im argentinischen Gran Chaco leben. Sie übermitteln andere Botschaften, die wir nicht nur wahrnehmen sollten, sondern die wir wiedergewinnen und irgendwann auch verinnerlichen müssen, denn, wie ich schon sagte: Wir brauchen sie.
K: Damit verabschieden wir uns für den Moment und hoffen, dass wir uns bald wieder treffen, um andere Aspekte der Ausstellung zu vertiefen. Danke, Claudia.
C: Nun, ja, dank‘ Dir und bis bald.
Übersetzung: Alexander Schmitt