Ein Essay von Markus Messling.
1989 ist ein Ereignis von weltweiter Bedeutung. Das Ende des Systemkampfes zwischen Ost und West schien für manchen geradezu das „Ende der Geschichte“ einzuläuten, eine Weltlage, in der keine intellektuelle Alternative zum westlichen Universalismus mehr bestünde. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle. Doch wer hört ihn noch, den Triumphgesang des zu sich selbst gekommenen Freiheitsbewusstseins? Die Geschichte hat ihn längst verstummen lassen. Die Beschränkung der europäischen Erinnerung auf die Befreiung vom Totalitarismus war nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die Literaturen zeichneten schon damals ein komplexeres Bild der Gegenwart, in dem sie nicht nur eine Welt der Gleichzeitigkeit des Differenten erzählten, sondern eindrucksvoll das strukturelle und psychologische Nachleben des Kolonialismus in den Zentren imperialer Macht zu Wort brachten. Es ist kein Zufall, dass genau im Jahr des Berliner Mauerfalls ein Standardwerk postkolonialer Theorie erschien, das diese Dynamik schon im Titel auf den Punkt brachte: The Empire Writes Back (London 1989). Die Erinnerung daran, dass die westliche Moderne ihre Ideale selbst durch ihre Herrschaftsansprüche unglaubwürdig gemacht hat, steht uns heute krass vor Augen: Die Welt verliert im Lauffeuer der Gewalt ihre Grenzen. Grenzen, die ihr die Imperialmächte in Verträgen etwa auf der Kongo-Konferenz in Berlin (1884/85) oder mit dem Sykes-Picot-Abkommen (1916) geschaffen hatten.
Ob der Westen dies wahrhaben will oder nicht: Sein universeller Gültigkeitsanspruch ist durch die Dialektik der Moderne, insbesondere die Verbrechen des Kolonialismus und die Ausbeutung von Mensch und Natur, erheblich delegitimiert. Heute leben wir im Zeichen weltweit florierender relativistischer Kulturauffassungen, die sich gegenüber den Idealen der Moderne abschotten: diese gelten als korrumpierte Begriffe westlicher Hegemonie. In vielen Gesellschaften des Westens selbst wird inzwischen die Vorstellung der Universalität des Menschen wieder in Frage gestellt, heißt Freiheit wieder die Freiheit zu Überlegenheit und Abschottung. Doch trotz aller protektionistischen Rhetorik nehmen die faktischen, das heißt menschlichen, prozessualen, materialen und medialen Verknüpfungen in einer sich ausbildenden Weltgesellschaft zu. So geraten die Wechselwirkungen der Gesellschaften mit Behauptungen „eigener“, als national oder ethnisch verstandene Identitäten, in Konflikt, die sich gegen den universalen Anspruch der Moderne richten. Um globale Gerechtigkeit zu organisieren und zu legitimieren und um Gesellschaften in einem menschheitlichen Horizont auf lokalen Ebenen mit je spezifischen Bedürfnissen zu gestalten, ist daher kaum etwas dringlicher als die Genese eines neuen Weltbewusstseins. Wie aber kann ein neues Bewusstsein von Universalität verstanden werden, dass nicht ausschließlich auf dem europäischen Universalismus beruht?
Eines der wichtigsten Theorielabors, das dieses Problem frühzeitig erkannt hat, ist das karibische Netzwerk der Créolité-Philosophen, die auf den Schultern von Aimé und Suzanne Césaire und ihren Ausführungen der Négritude-Bewegung stehen. Ihr wichtigster Vertreter war der in Martinique und Paris gleichermaßen lebende Schriftsteller, Literaturtheoretiker und Philosoph Édouard Glissant, der für das Leben in einer Welt der wechselseitigen Beeinflussung und des Chaos eine Poetik der Vielheit („Poétique du divers“, 1996) vorgeschlagen hat.
Für Glissant entwickeln sich Gesellschaften in Form von Erzählungen, die das Selbstverständnis und die Regeln des Miteinander gestalten. Die großen Bezugstexte kultureller Kollektive deutet Glissant daher als Ausdruck eines Weltbewusstseins: In ihnen wird die Welt in einer spezifischen Form dargestellt, die sich zur sozialen Wirklichkeit erhärten kann. Glissant greift hier explizit Hegels Ästhetik auf und unterzieht sie einer kritischen Reflexion: So seien die großen epischen Texte, Hegels „Grundbücher“, auf denen die europäische Kultur fuße – das Alte Testament, Ilias und Odyssee, die „Aeneis“ oder die „Divina Commedia“ – Geschichten der Gemeinschaftsbildung und damit der Etablierung einer eurozentrischen Ordnung – wobei Europa mit seiner Schriftkultur hierarchisch über Kulturen mit Traditionen mündlicher Überlieferungen gestellt wurden. Was daraus für Glissant hervorgeht, sind ausgrenzende Erzählungen des Weltganzen, Weltpoetiken, die auf Komplexitätsreduktion, auf Vereinheitlichung und Totalisierung zielen. Der kraftvollste Ausdruck dieses Systemdenkens sei, im 19. Jahrhundert, auf dem Höhepunkt der europäischen Eroberung und Angleichung der Welt, Hegels Geschichtsphilosophie selbst gewesen. Glissant liest sie als eine große Erzählung vom Aufstieg europäischer Vernunft. Interessant an seiner Deutung ist, dass er diese großen Narrationen nicht als triumphale Geste Europas, sondern als Ausdruck einer Abwertung gegenüber außer-europäischen Kulturen einerseits und einer Angst andererseits deutet, die obsessiv Sehnsüchte nach Verwurzelung, Reinheit, Einsprachigkeit und Vorherrschaft hervorgebracht habe, die immer wieder zu Ausgrenzung und Hierarchisierung, bis hin zu Gewalt und Völkermord führten.
Dieses Weltbewusstsein nennt Glissant ein „kontinentales“, weil es über Selbstbezug und Abgrenzung funktioniere. Degegen formuliert er das, was er ein „archipelisches Denken“ nennt. Dieses ist ein Denken des vielfachen und permanenten Bezugs, das kulturelle Unterschiede nicht systematisch gegenüber sich selbst abgrenzt, ordnet und in einer einzigen Sprache auf den Begriff zu bringen sucht, sondern Gesellschaften ‚nach innen‘ wie ‚nach außen‘ als einen steten Austausch- und Vermischungsprozess begreift. Alles steht mit allem in Beziehung und muss immer in dieser Vielbezüglichkeit gedacht werden – so, wie die Bootslinien in der Inselwelt des karibischen Archipels ein Netz des Austauschs spannen. Man versteht hier, wie Glissant Kultur und Realität in der Narration verbunden sieht, wie europäische und karibische Erfahrungen sich in Glissants Denken verweben.
In seiner Philosophie dieser Austauschbeziehungen („Philosophie de la Relation“, 2009) beschreibt Édouard Glissant die Herausforderung eines solchen Weltverständnisses, das anerkennen muss, dass es die „All-Welt“, in ihren Facetten wie auch in ihrer Gesamtheit nie gänzlich erfassen kann. Eine „archipelische Kultur“ versucht so mit Unvorhersehbarkeit, Unvereinbarkeit und Ungleichzeitigkeit zurechtzukommen, ohne die Welt nach einem (ihrem) Modell gedanklich zu richten und physisch gestalten zu wollen. Wie ein Archipel eine Inselwelt nur in der Gesamtheit aller Inselbezüge ist, kommt alles neben allem vor und muss gleichzeitig gedacht werden. Da die Vielheit der Erscheinungen aber nicht mehr – etwa unter dem Scheidungskriterium ‚modern – nichtmodern‘ – systematisiert werden kann, leben wir in „zersplitterten Welten“, in einer Zeit permanenter Chocs und Konflikte, der Abneigungen und Anziehungen, heimlicher Einverständnisse und Gegensätze zugleich, kurz in einer „Chaos-Welt“. Wenn die Reaktion hierauf nicht Abgrenzung und Gewalt sein soll, so Glissant, gelte es, die Spannungen auszuhalten, und ein Bewusstsein der Möglichkeit und Offenheit für das Unvorhergesehe herauszubilden. Das neue Universalbewusstsein kommt so in einer komplexen Erzählung der Beziehungen zum Ausdruck („Poétique de la relation“, 1999).
Glissants Ästhetik, seine Lehre von einer sich selbst erzählenden Welt-Vielheit, ist damit der Versuch einer Geschichtsphilosophie, die in der „Chaos-Welt“ ein neues Bewusstsein erfassen und dieses zu sich selbst wenden will. Darin gleicht es dem Projekt Hegels, das es auf den Kopf zu stellen sucht. Gegen die postulierte Einheit des Geistes stellt Glissant ein Bewusstsein alles Seienden. Jede Lebensform entwickelt dabei ihre eigene Erzählung von sich selbst, steht in Bezug zu den anderen Erzählungen von Gemeinschaft, ohne dabei jedoch völlig transparent, das heißt, für die anderen gänzlich nachvollziehbar sein zu müssen. Das Ziel der Geschichte ist so ein Bewusstsein absoluter Offenheit, in der alles vorkommend, alles denkbar, alles lebbar ist. Ein solches Weltbewusstsein zu schaffen, ist für Glissant die Aufgabe der zeitgenössischen Literatur. Sie kann Modelle für Gesellschafts-Erzählungen im weiteren Sinne herausbilden, die eine unendliche Komplexität mehrsprachig entfalten können, ohne die Komplexität der Bezüge und Referenzen, der Haltungen und Lebensmodelle hierarchisch zu ordnen.
Ist es aber in einem solchen Bewusstsein der Welt ausgeschlossen, dass einer den anderen nicht anerkennt, eine Gesellschaft die andere unterwirft, wie es die westliche Moderne mit praktisch der gesamten Welt getan hat? Das fundamentale Problem einer solchen Geschichtsphilosophie hat Glissant selbst gesehen: Was ist mit „Erzählungen“ der Offensiven Abschottung bis hin zur Gewalt? Was verhindert, dass sie sich entgrenzen, dominant werden? In welchem Namen kann ihre Brutalität zurückgewiesen werden? Wie sollen wir handeln, wenn Kollektive ihre Lebensform als einzig oder allgemeingültig zum Maßstab von Politik nehmen, andere Menschen unterwerfen, die Vielfalt mit Füßen treten?
Die Antwort, die Glissant hierauf gibt, ist eine solche der Selbst-Bescheidung, die aus einem veränderten Weltbewusstsein erwächst. Die einzige Möglichkeit des globalen Miteinanders liegt nun im Bewusstsein aller von der eigenen, partikularen Stellung in einer „All-Welt“. Alle müssen die Maßlosigkeit der Welt verinnerlichen, das heißt die Tatsache, dass keiner ein Maß der Beurteilung besitzt. Alle müssen im Sinne einer Poetik der Vielheit die Regeln permanenten Bezugs einhalten, um ihre eigene Lebensform aufrechterhalten zu können. Die Probleme einer solchen nichtnormativen Ethik sind offensichtlich. Was ist, wenn sich jemand nicht daran hält? Wir stehen hier vor dem Problem, auf das nachdrücklich der Erzähltheoretiker Albrecht Koschorke hingewiesen hat: „Wie das Denken und Sprechen überhaupt, so verfügt auch das Erzählen über kein hinreichendes intrinsisches Wahrheitszeichen.“ Konkret: Die Vielheit von Erzählungen als Prinzip kann keinen universalen Horizont darstellen, der das Zusammenspiel menschlicher Erzählungen im Zweifel regeln kann.
Glissants Vorstellung einer „archipelischen Welthaltung“ ist ein wichtiger und wesentlicher Beitrag in einer Zeit, in der ein „Kampf der Kulturen“ zur neuen Leitmaxime ausgerufen wurde. Sie insistiert auf dem Recht und der Möglichkeit der Pluralität von Lebensformen. Sie zeigt, dass eine Welt, die zusammenwächst und doch verschieden bleibt, auch eine Zumutung ist, der wir nicht mehr im Sinne überkommener Obsessionen von Zentrum und Peripherie, von Ordnung und Chaos begegnen können. Sich widersprechende Lebensstile wohnen Tür an Tür.
Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich vor allem in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Eindruck hergestellt, man lebe außerhalb der Chaos-Welt. Jetzt, da kriegerische Gewalt, die wesentlich aus den Strukturen der kolonialen Moderne hervorgeht, den Europäern nahe rückt, da die Geschichten von Geflüchteten massiv von ihr zeugen, wird diese Erzählung endgültig absurd. Die Freiheit von kriegerischer Gewalt ist aber nicht nur für Europa beanspruchbar, sondern gilt auch jenseits der eigenen Betroffenheit. Um kriegerische Gewalt zu sanktionieren und Gerechtigkeit auf globaler Ebene zu organisieren, muss ein planetarer Horizont nach dem europäischen Universalismus gedacht werden, der Handeln möglich macht und Rechte weltweit zur Geltung bringt. Eine solche Universalität kann nicht mehr von einem Zentrum postuliert werden – wie es der von Hegel auf den Punkt gebrachte europäische Universalismus als Ideologie getan hat – , sondern muss aus konkreten Kontexten erwachsen und in diesen verkörpert sein, deren Eigenrecht und Komplexität Glissant zurecht betont hat. Wie diese neue Universalität gedacht werden kann, die von der Vielfalt nicht mehr abstrahiert, ist erst noch zu erzählen. Der französische Philosoph Étienne Balibar hat hierfür das Konzept des „Multiversums“ vorgeschlagen. In jedem Fall aber muss das „Wir“ in einer Weltgesellschaft mehr sein als die Summe unserer differenten Lebensstile, wenn wir uns nicht mit der zynischen Position des Zuschauers abfinden wollen.
Markus Messling (Centre Marc Bloch Berlin)
Markus Messling ist seit Juni 2015 stellvertretender Direktor des Centre Marc Bloch. Promotion in Romanischer Philologie an der Freien Universität Berlin 2007; Habilitation an der Universität Potsdam 2015 (Venia legendi für Romanische Philologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft). Er war Projektleiter Wissenschaft und Forschung bei der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius in Hamburg (2007/2008), und DAAD/MSH-Postdoktorand an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) Paris (2008/2009). Von 2009 bis 2014 war er Leiter der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Philologie und Rassismus im 19. Jahrhundert“ an der Universität Potsdam (Deutsche Forschungsgemeinschaft). Seit 2011 ist er zudem Sprecher (gem. mit Franck Hofmann) der internationalen Forschergruppe „Transmed! Denken der Méditerranée und europäisches Bewusstsein“ (DFJW, in Kooperation mit dem Collège International de Philosophie Paris). Seine Arbeiten wurden mit dem Tiburtius Preis der Berliner Universitäten für herausragende Dissertationen sowie dem Nachwuchswissenschaftler-Preis des Landes Brandenburg ausgezeichnet.
Markus Messling ist Mitglied des Kollegiums von „Zukunftsphilologie. Revisiting the Canons of Textual Scholarship“ (Forum Transregionale Studien / Freie Universität Berlin), Gründungsherausgeber von Philological Encounters (Leiden, Boston: Brill) und Redakteur der Zeitschrift für Ideengeschichte(München: C.H. Beck). Er war Fellow der School of Advanced Study-University of London (2014), Visiting Scholar der University of Cambridge und des Wolfson College (2014), sowie Gastprofessor an der EHESS Paris (2011, 2015) und der Kobe University in Japan (2016).