Mit John Akomfrah, Chto Delat, Dilip Gaonkar, Gauri Gill, Louis Henderson, Satch Hoyt, Jitish Kallat, Karrabing Film Collective, Glenn Ligon, Daniel Joseph Martinez, Natascha Sadr Haghighian, SAHMAT, Chandragupta Thenuwara und Ala Younis
Kuratiert von Natasha Ginwala
Kuratorische Assistenz: Krisztina Hunya
„Der Lernprozess ist etwas, das man anstiften kann, wortwörtlich anstiften, wie einen Aufstand.“
– Audre Lorde
Der riot oder Aufruhr ist eine außergewöhnliche Situation, die in der andauernden Konfrontation zwischen Dissens und Macht über Jahrhunderte eine zentrale Rolle spielt. Die tieferen Krisen des Kapitalismus, rassistische Gewalt und Spannungen zwischen ethnischen und religiösen Gruppen haben uns in eine „Ära des Aufstands“ [i] gestürzt. Die großen Masterpläne vom souveränen Nationalstaat fallen in sich zusammen; wenn die Besitzlosen durch hegemoniale Mächte zum Schweigen gebracht werden, bringt dies lediglich die Risse in der Regierbarkeit zum Vorschein. Vor diesem Hintergrund bringt die Ausstellung Riots: Allmähliches Aufkündigen der Zukunft künstlerische Arbeiten und Recherchepositionen aus aller Welt zusammen, um die jüngsten riots und Aufstände zu „spüren“ und aufzuzeichnen – und so eine Phänomenologie der Menge zu beschwören. [ii]
Elias Canetti schrieb 1960: „Zu den auffallendsten Zügen im Leben der Masse gehört etwas, was man als ein Gefühl von Verfolgtheit bezeichnen könnte.“ [iii] Aber was passiert, wenn staatliche Kräfte zur Verfolgung innerhalb der Menge selbst anstiften? Der Aufruhr macht Veränderung möglich und wird oft zum entscheidenden Moment, vor allem in langwierigen Konflikten – in Form von Massenaufständen, antikolonialem Kampf, Bürgerkrieg und Völkermord. Und doch bleibt er nur zu oft ein ungeklärtes Kapitel, strategisch vergraben im Unterbewusstsein geteilter Städte.
Der Sozialtheoretiker Dilip Gaonkar stellt die Frage: „Wie lässt sich erklären, dass es im Entwicklungsverlauf kapitalistischer Zeiten und kapitalistischem Terrains fortwährend zu Auflehnungen und randalierenden Menschenmassen kommt? Meiner Ansicht nach sind unsere Zeit und unser Terrain in einem unlösbaren Paradox gefangen: Sie wollen die Massen und fürchten den Aufstand.“[iv] In der Ausstellung präsentiert er eine Videocollage aus Spielfilmen, Nachrichtensendungen und Dokumentarfilmen, die eine mögliche Zeitachse vorgeben und „die Politik des Chaos“ erfassen, darunter Aufstände, Menschenansammlungen, Massenbegräbnisse und Straßenproteste.
Dazu passt Jitish Kallats Installation Anger at the Speed of Fright (2010), die eine turbulente Menschenmenge in Miniaturform zeigt: Randalierer*innen erstarrt beim Steinewerfen, in Prügeleien und auf der Flucht vor Polizeigewalt – Angreifer*innen und Opfer, festgehalten in blinder Wut. Kallat eröffnet uns einen Blick auf diesen Kreislauf menschlicher Gewalt und ermöglicht uns so ein Nachdenken über die explosiven Dimensionen und die Dystopien, die in einer globalen Metropole am Werke sind.
Die Learning Flags (2011) des Kollektivs Chto Delat (Was tun?) – einer Arbeitsgruppe aus Künstler*innen, Kritiker*innen, Philosoph*innen und Autor*innen – werfen die Frage auf, welche Dynamik radikalem Lernen und kollektivem Handeln zugrunde liegt. Wie können diese Flaggen zur Quelle einer improvisierten Pädagogik für Straßenaktivismus werden und als theatralisches Gerüst für nachhaltiges Lernen dienen? Dieses zwischen Galerie und Straße angesiedelte Werk untersucht Handlungsmöglichkeiten in der Kulturarbeit und setzt sich mit dem Nutzen von Kunst auseinander.
Die Poster und Publikationen des in Neu-Delhi ansässigen Kollektivs SAHMAT (Safdar Hashmi Memorial Trust) sowie die Musikkonzerte und Ausstellungen, die das Kollektiv seit 1989 organisiert, weisen ästhetische Strategien auf für den Kampf gegen das Erstarken ethnisch-religiöser Kräfte und für künstlerische Freiheit, säkulare Tradition und Vielfalt der Geschichtsschreibung. Die Ausstellung zeigt einige zentrale Interventionen, die SAHMAT nach der Zerstörung der Babri-Moschee („Babur’s Mosque“, 1992), den Bombay Riots (1992–93) sowie den gewalttätigen Ausschreitungen in Gujarat 2002 realisiert hat.
Gauri Gills Langzeitprojekt 1984 (2004) verbindet die Stimmen verschiedener Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Dichter*innen und Filmschaffenden mit den Erinnerungen von Überlebenden des Völkermords an den Sikh 1984 in Delhi. Dabei geht es Gill um den Dialog zwischen ihren zuvor in Printmedien veröffentlichten Fotografien und widerständigen Reaktionen, die eine Art Notizbuch mit Bibliografie bilden und sich gegen die von der Nekromacht hinterlassene Leere richten.
Seit einem Jahrzehnt gedenkt Chandraguptha Thenuwara mit einer jährlichen Ausstellung den Ausschreitungen während des Schwarzen Juli 1983 in Sri Lanka und ihrer sich wandelnden Bedeutung. In Zeichnungen und Installationen veranschaulicht er die Monstrosität des gewalttätigen Mobs, der verschwundenen Körper und der staatlichen Kontrolle des urbanen Raums durch von ihm selbst entwickelte Konzepte wie dem des „Barrelism“ – Fässer als Symbol für die wachsende militärische Präsenz in der Gesellschaft – und befasst sich außerdem mit der rasenden Gentrifizierung nach dem Bürgerkrieg.
Aus ikonografischem Filmmaterial über den Brotaufstand 1977 in Ägypten und jordanischen Radioberichten nach der Ankunft irakischer Flüchtlinge im Jahr 1990 hat Ala Younis eine „stereoskopische“ Studie geschaffen, die sich mit der Anstiftung zu riots und zivilem Ungehorsam durch Gerüchte, bürokratische Lecks und Manipulationen der öffentlichen Meinung beschäftigt. In ihrem Projekt untersucht sie die Bilder von mobilen Kameras und aus Fernsehübertragungen von Massendemonstrationen in Ägypten und geht auch auf den „algorithmischen Terror“ durch Social-Media-Feeds ein, die dem Fanatismus ganz neue Wege eröffnen.
Die neu für die Ausstellung entstandene Installation They Been Jealous (2018) des Karrabing Film Collective zeigt den Zusammenhang zwischen den Aufständen australischer Ureinwohner und der Akkumulierung traditionell indigenen Landes im Besitz des Siedlerstaates. Dabei setzen sich die Mitglieder des Kollektivs mit dem Wesen von Neid in der heutigen Zeit auseinander und nehmen zugleich eine Neuzuordnung indigener Gebiete mittels gesellschaftlicher wie mythischer Methoden vor, die Formen von Differenz und Verpflichtung strukturieren.
John Akomfrahs wegweisender Film Riot (1999) spürt den Ausschreitungen in Liverpool im Juli 1981 nach, einer Zeit, die geprägt war von der wirtschaftlichen Rezession unter der Thatcher-Regierung. Diesen Wendepunkt im Kampf Großbritanniens für eine multikulturelle Demokratie rekonstruiert Akomfrah mithilfe von Interviews, welche die Ghettoisierung und den Rassismus im Liverpooler Stadtteil Toxteth zeigen, der mit den Straßenkontrollen und Durchsuchungen der Polizei nach den „Stop-and-Search“-Gesetzen zur Eskalation führte. Louis Hendersons jüngster Film Evidence of Things Unseen but Heard (2017) stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Einsatz staatlicher Überwachungstechnologien gegen schwarze Communitys in Bristol, dem Aufstieg der Sound-System-Kultur und dem einzigartigen „Bristol-Sound“. Henderson verknüpft Aufnahmen aus dem St.-Pauls-Viertel, begleitet von einer Reflexion über die Geschichte Bristols, in der Plantagenarbeit und Sklaverei eine große Rolle gespielt haben, mit Archivbildern des St.-Pauls-Karnevals und den direkten Folgen der Massenunruhen von 1980 zu einer archäologischen Soundcollage.
Glenn Ligon untersucht die Probleme von Sprache und Repräsentation anhand von Geschichten über afroamerikanische Identität. In seinem Siebdruck Untitled (Condition Report for Black Rage) (2015) wird der Buchumschlag von Black Rage (1968) zum Fokus für die Deutung weißer Ängste vor Schwarzen Körpern und Schwarzer Wut. Wie in einem Konservierungsbericht wurden klinische Kennzeichnungen vorgenommen, die die Flecken und Reparaturen des Buches zu einem einschlägigen Kommentar über Amerikas gespaltene Gesellschaft werden lassen. In den Skulpturen Riot (2014) und Bula Matari (2013) von Satch Hoyt werden die Erfahrungen Schwarzer mit rassistischer Gewalt durch die Bullenpeitsche, den Polizeischlagstock und den Wasserstrahl thematisiert, alles Mittel zur Bestrafung und Abwehr. Während Peitschenknallen nach wie vor mit Erzählungen über Sklaverei in Verbindung gebracht wird, klingen die Schlagstöcke wie eine Maßnahme zur Eindämmung von Aufständen aus viktorianischer Zeit, die heute noch überall „in Aktion“ tritt.
Was bedeutet es, sich wehrende Körper zu bändigen, wenn wir das Augenmerk auf Berichte über Rassenunruhen im 20. Jahrhundert lenken? Die Arbeit Fuel to the Fire (2016) von Natascha Sadr Haghighian ist eine Reaktion auf den Gefängnisstaat – ein Vermächtnis imperialer Gewalt und Rassentrennung, das mit der zunehmenden Militarisierung der Polizei einhergeht. Haghighian hat die Zeitung als Schlüsselmedium gewählt, um gemeinsam mit Bürgerinitiativen und Aktivist*innen für soziale Gerechtigkeit über die strukturelle Ungerechtigkeit nachzudenken, die zu den sogenannten Stockholm Unruhen geführt hat. Haghighian und ihr Team berichten über einen Mord, der sich vor über fünf Jahren im Stockholmer Vorort Husby ereignete. Damals wurde ein Anwohner namens Lenine Relvas-Martins in seiner eigenen Wohnung von einem Spezialeinsatzkommando der schwedischen Polizei (Piketen) erschossen.
Daniel Joseph Martinez verbindet seine persönliche Erfahrung und seine skulpturale Arbeit mit den Watts Riots und der Gründung der SWAT-Polizei (Special Weapons and Tactics) im Los Angeles der 1960er Jahre. Das ikonische Foto von den Black-Panther-Revolutionären Bobby Seale und Huey Newton in der Parteizentrale in Kalifornien aufgreifend, thematisiert er ihre anhaltende Präsenz durch die Darstellung in Carrara-Marmor und zeigt sie als Wächter der Zukunft von Black Power. Auf diese Weise führt er uns vor Augen, wie Bilder Zeugnis ablegen und „wiederkehrende Refrains“ in einer von Brüchen gezeichneten Gegenwart bleiben. Riots oder Ausschreitungen enthüllen den antidisziplinären Kern einer Gesellschaft–- ihren rebellischen Geist, aber auch die traumatischen Auswirkungen. Auch wenn sich überall Beweise verstecken, Spuren, eingegraben in die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zu den Narben der Stadt werden, können wir diesen Zustand nie ganz begreifen. In Anlehnung an „das allmähliche Aufkündigen der Zukunft” („the slow cancellation of the future“) der Theoretiker Franco „Bifo“ Berardi und Mark Fisher [v] ringt diese Ausstellung mit verlorener Zukunft und untersucht gleichzeitig die Mikropolitik der Menge und die vielen Sprachen des Aufruhrs, die das „Guckloch eines Schlupfwinkels“ ablehnen. [vi]
[i] Joshua Clover, Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings (London and New York: Verso, 2016).
[ii] Dilip Gaonkar, After the Fictions: Notes Towards a Phenomenology of the Multitude, e-flux Journal, 58 (October 2014).
[iii] Elias Canetti, Crowds and Power (London: Phoenix, 2000), pp. 20–21.
[iv] Gaonkar, After the Fictions (see note 2).
[v] Mark Fisher, Ghosts of My Life: Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures(UK: Zero Books, 2014).
[vi] Borrowed from African-American writer and reformer Harriet Ann Jacobs, in her autobiographical novel Incidents in the Life of a Slave Girl (1861).
Mit freundlicher Unterstützung des Goethe-Instituts Sri Lanka