„Früher war es ein Leichtes, Figuren und Zierat aus der Tiefe zu holen 
um die Freunde die uns noch treu waren damit zu erheitern.

Die Seile sind zerrissen: nur die Rillen am Brunnenrand
Erinnern uns noch an unser vergangenes Glück“

Giōrgos Sepherēs, Mythischer Lebensbericht

Mit Hera Büyüktaşcıyan

Kuratiert von Nat Muller

In der Einzelausstellung Neither on the Ground, nor in the Sky zeigt Hera Büyüktaşcıyan ihre neuesten Arbeiten, in welchen sie mit poetischen Mitteln die Bedeutung von Migration, kulturellem Erbe, Zugehörigkeit und Vertreibung untersucht. Inspiriert wurde das Projekt von einem Bodenmosaik im Berliner Pergamonmuseum, dem sogenannten Mosaik mit Alexandersittich (160–150 v. Chr.), das aus dem alten Palast von Pergamon (heute Bergama in der Türkei) stammt. Während Herkunft und Besitz antiker Kunstwerke und von Artefakten aus kolonialen Kontexten derzeit in akademischen und Museumskreisen viel diskutiert werden – was auch den politischen Hintergrund für das Projekt bildet – fasst Büyüktaşcıyan diese Fragen weiter und nimmt uns mit auf eine Reise durch verschiedene Zeiten und Räume, in welche sie universelle Gefühle und Erfahrungen wie Verlust, Identität und Geschichte einbezieht. 

Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf ein Stadtviertel, das an die Ausgrabungsstätte in Pergamon angrenzt. Einige Häuser wurden hier auf einer Brücke gebaut und erwecken den Eindruck, als schwebten sie zwischen Himmel und Erde – wie ein Vogel auf einem Baum. Das Vogelmotiv findet sich in Gestalt des Alexandersittichs in mehreren der gezeigten Werke: Er begleitet und führt die Besucher*innen, so wie in dem titelgebenden Video Neither on the Ground, nor in the Sky, in dem er zwischen dem heutigen Bergama und den Ruinen des vergangenen Pergamons hin und her flattert. In der Ausstellung kommt dem Sittich eine mehrdeutige Rolle zu: Er fungiert als Symbol für die Freiheit und verweist aufgrund seiner ikonografischen Geschichte gleichzeitig auf das Motiv der Gefangenschaft. Doch die Künstlerin entlässt den Vogel ins Freie, sodass er das Gelände der Ausgrabungsstätte und die moderne anatolische Stadt erkunden kann. Er wird Zeuge des Wandels der ehemals mächtigen und prunkvollen Stadt zu einem dicht bevölkerten urbanen Zentrum, in dem sich auch heute Spuren dieser Vergangenheit finden lassen. Der Vogel nimmt eine Zeit und einen Raum des Dazwischen ein, einen Grenzbereich, weder am Boden noch am Himmel, weder im Heute noch im Gestern.

Die Vergangenheit überlagert oft unsere Wahrnehmung und Kenntnis der Gegenwart. Sie kann uns dabei als wärmende Decke dienen, in die wir uns hüllen im Wissen, dass das Vergangene hinter uns liegt. Aber sie kann uns auch beengen und uns daran hindern, über dieses Wissen hinauszugehen. Diesem Gefühl wird in der Arbeit The Observers Ausdruck gegeben, einem Paar zarter Porzellansittiche, die in handgeknüpfte Teppiche gehüllt sind. Wie Wächter beobachten sie den Lauf der Zeit und verfolgen, welche materiellen Überreste erhalten bleiben. Welche Spuren der Geschichte erhalten sich, welche werden verschüttet und welche verschwinden? Ist es überhaupt möglich, gegen das Fragmentarische und die Flüchtigkeit des Gedächtnisses anzukommen und Zerfall als sinnstiftend zu betrachten?

Die Spannung zwischen der materiellen Präsenz der Geschichte einerseits und ihrer gespenstischen Vergänglichkeit andererseits wird in zwei weiteren Arbeiten mit Teppichen besonders eindrücklich dargestellt: In der Installation Foundations und der Bodenarbeit Panta Rhei. Teppiche fungieren in der gesamten Ausstellung als Kontrapunkt zu den Vögeln und vereinen verschiedene Aspekte: Sie haben die wärmenden und behaglichen Eigenschaften eines festen Zuhauses und gleichzeitig können sie bei einem hastigen Aufbruch zur Flucht verwendet werden, um das Hab und Gut einzupacken. Für jene, die kein Zuhause haben, kann ein Teppich einen privaten Ort der Zuflucht schaffen, der – in seinem begrenzten Rahmen – ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln kann.

In Foundations lädt ein Steg aus aufgerollten Teppichen mit Mosaikmuster die Betrachter*innen dazu ein, zwischen den Säulen eines lange vergangenen Raumes zu schlendern: der Stoa der Bibliothek von Pergamon. Als monumentale und dennoch mobile Installation ähneln die Rollen den Schriftrollen, die einst die berühmte Bibliothek Pergamons füllten. Die Mosaikmuster der Textilien lassen sich zugleich wie ein Notationssystem lesen, das die ältere und die turbulente jüngere Geschichte Pergamons dokumentiert.

Panta Rhei ist inspiriert von der Vorstellung Heraklits, dass „alles fließt“. Die geschichteten Teppiche zeigen Darstellungen des Alexandersittich-Mosaiks aus Pergamon. Auch hier wird dem fragmentarischen, veränderlichen und in gewissem Maße verborgenen Wesen des Gedächtnisses Ausdruck verliehen – ähnlich einem Palimpsest, auf dem die Überreste der Vergangenheit in die Äußerungen der Gegenwart übergehen. Die Künstlerin bezieht sich auf die architektonischen Fundamente des Pergamonaltars, dessen heutige Ausgrabungsstätte von Unkraut überwuchert ist und von Schlangen bevölkert wird. Ebenso wie das Bodenmosaik befindet sich auch der Altarfries im Pergamonmuseum in Berlin; die Arbeit kann somit als Verweis auf Verlust und Trennung verstanden werden.

Um die Herausforderungen, die mit der Darstellung der Geister der Geschichte und ihrer narrativen Ordnung einhergehen, geht es in Icons for Birds on Stones. Für diese Serie verwendete die Künstlerin Kohlepapier und Bleistift und arbeitete mit Archivbildern der Ausgrabungsstätte in Pergamon. Die durch Abreibungen entstandenen Bilder wirken geradezu geisterhaft. Ausgestellt in Form von Bausteinen bilden die Icons for Birds on Stones die Forschungsgrundlage des Narrativs, das Hera Büyüktaşcıyan in der Ausstellung entfaltet. 

In Neither on the Ground, nor in the Sky beschäftigt sich Büyüktaşcıyan mit einer nicht linearen Zeitlichkeit, mit einem Ort, der weder bis zum Himmel reicht noch den Boden berührt. Dieser Ort ist der Ausgangspunkt einer Reise durch die Geschichte, die uns letztlich in unsere unruhige Gegenwart führt.